Das rote Gebetbuch

Forgiven – not Forgotten
The „Red Book“ returns to where generations of my family and other Roedelheim Jews prayed here with heart, soul and mind and to love ones‘ neighbors go together.
The „Red Book“ return symbolizes the continual healing process. For the Jewish people who once lived here, the rest of the Roedelheim community and generations to come.

Carol Froehlich
Das rote Gebetbuch. Foto: Heiko Lüßmann

Die Geschichte einer jüdischen Familie aus Rödelheim

Heiko Lüßmann / Im Februar 2018 stehe ich im Hauptzollamt in Oberursel.
Ein Paket aus den USA ist angekommen. Der Inhalt soll verzollt werden.
Die Sendung war angekündigt. Ein Paket mit Gebetbüchern aus Rödelheim, die nun nach fast 80 Jahren Exil zurückkehren, dorthin wo sie gedruckt wurden, dorthin, wo sie gelesen wurden von den Familien Stern, Capell und Weissbürst. Bis sie mit ihren Besitzern teils erzwungen, teils aus anderen Gründen den Weg über den Atlantik in die USA und nach Kanada gingen.

Nun werde ich auf dem Hauptzollamt gefragt, welchen Wert der Inhalt des Paketes habe. Denn danach soll die Zollgebühr errechnet werden.
Jedes einzelne dieser Bücher ist über hundert Jahre alt. Bestimmt das Alter ihren Wert?
Jedes dieser Bücher ist entweder ein jüdisches Gebet- oder Gesangbuch in hebräischer und deutscher Sprache. Bestimmt der Inhalt ihren Wert?
Jedes dieser Bücher steht in Beziehung zu Menschen, die es gedruckt, die es gelesen haben, für die es so viel Halt symbolisiert hat, dass es auf dem Weg dieser Menschen ein unverzichtbarer Begleiter war. Misst sich nicht eher hierin der Wert dieser Bücher?

Eines dieser Bücher ist ein kleines rotes Gebetbuch. Es trägt eine Widmung der Druckerei Lehrberger für die Familie Capell. Ein Geschenk aus Anlass eines besonders schönen Ereignisses im Jahr 1898.
Im August 1898 wird Sybilla (später genannt Elly) Capell als älteste Tochter des Rödelheimer Metzgers Jakob und seiner Frau Sophie Capell geboren.

Wolf Heidenheim – Eine jüdische Gemeinde wird weltbekannt
Ich gehe nochmals genau 100 Jahre zurück. Im August 1798 wendet sich der seit zehn Jahren in Offenbach als Verleger und Verfasser hebräischer Texte tätige Wolf Heidenheim an den Grafen zu Solms mit der Bitte, in Rödelheim eine Buchdruckerei einrichten zu dürfen.

Im Oktober erhalten er und sein Teilhaber Baruch Baschwitz, ein gelernter Buchdrucker, die Erlaubnis zur Einrichtung der Druckerei unter dem Namen: „Oriental- und occidentalische privilegierte Buchdruckerei von Wolf Heidenheim und Baruch Meyer Baschwitz“. Bis 1807 betreiben beide gemeinsam die Druckerei in der Rödelheimer Landstraße 174. Gedruckt werden hier vor allem jüdische Gebet- und Gesangbücher, die von Wolf Heidenheim neu überarbeitet in hebräischer und deutscher Sprache herausgegeben werden. Heidenheim gilt als hochanerkannter jüdischer Gelehrter, der die Gebetbücher nicht nur in die deutsche Sprache übersetzt sondern auch mit erklärenden Kommentaren versieht und die religiösen Texte so für viele deutsche Juden erst verständlich macht.

Durch seine Arbeit bekommt Rödelheim in der jüdischen Welt einen ganz besonderen Stellenwert. Heidenheim gehört mit seinem Wirken zum liberalen Judentum und so werden er und damit auch Rödelheim zu einem Begegnungsort von religiös liberal denkenden Menschen über die Konfessionen hinweg. Dies prägt auch das Zusammenleben der evangelischen Cyriakusgemeinde und der jüdischen Gemeinde über den Tod Wolf Heidenheims hinaus. Ihren besonderen Ausdruck findet dieses von gegenseitigem Respekt geprägte Zusammenleben darin, dass der Pfarrer der Cyriakusgemeinde Dekan Thudichum 1838 anlässlich der Einweihung der jüdischen Synagoge im Inselgässchen eine Einweihungsrede hält.

Nach dem Tod Wolf Heidenheims im Jahr 1832 geht die Druckerei in den Besitz von Israel Lehrberger über, der die Heidenheimschen Editionen nachdruckt. Bis 1901 bleibt sie im Besitz der Familien Lehrberger. Dann wird sie vom Verlagsbuchhändler Ignatz Kauffmann weitergeführt, der ihren Sitz in die Lorscher Straße 3 verlegt. 1912 übernimmt sein Sohn Dr. Felix Kauffmann die Druckerei und zieht mit ihr in die Schillerstraße 19 um. Im Jahr 1938 wird die Druckerei von den Nazis liquidiert. Die Familie Kauffmann kann noch 1941 über Spanien und Portugal in die USA fliehen.

Die Geschichte der Familien Capell, Stern und Strauß
Im August 1898 also wird der Familie Capell wahrscheinlich aus Anlass der Geburt ihrer Tochter Sybilla, genannt Elly, ein rotes Gebetbuch überreicht.
Jakob Capell wurde 1865 in Düren geboren, seine Frau Sophie 1872. Sie ist eine geborene Hammel und entstammt einer alteingesessene Familie in Rödelheim, die in der Obergasse 6 eine Metzgerei betreibt. Die Capells wohnen in ihrem Haus in der Assenheimerstraße 1. Sie übernehmen die Metzgerei der Familie Hammel. Das Haus existiert noch heute an der Ecke Assenheimerstraße / Öhlmühlgasse. Beide Häuser sind noch in fast ursprünglicher Form im Rödelheimer Stadtbild zu erkennen.
Sybilla Capell hat zwei jüngere Geschwister. Die Schwester Selma wird 1900 geboren, der Bruder Siegfried 1905.

Sybilla heiratet den Rödelheimer Textilkaufmann Arthur Stern. Auch die Sterns leben bereits seit mehreren Generationen in Rödelheim. Der Großvater Louis Stern wird zurzeit Wolf Heidenheims im Jahr 1803 in Rödelheim geboren und verdient dort sein Geld als Schneider. Den Beruf gibt er an seinen Sohn Joseph Stern (1846-1917) weiter. Arthur wird als Sohn von Joseph und Caroline Stern, geb. Rothschild (1854-1927) am 29. Juni 1890 in Rödelheim geboren. Die Familie lebt der Winterstraße 18. Arthurs Schwester Frieda kommt 1896 zur Welt. Außerdem lebt bei der Familie Stern noch ein Pflegesohn, Maurice Weissbürst. Er wird von den Sterns großgezogen, weil seine Eltern als Handelsvertreter sehr viel auf Reisen sind.

Nach der Hochzeit ziehen Arthur und Elly Stern in das Haus der Capells in die Assenheimerstraße 1. Dort wird 1923 ihre Tochter Edith geboren. In dem großen Haus wohnt auch die Familie von Ellys Schwester Selma. Selma ist mit dem Kaufmann Isidor Strauß verheiratet. Ihre Tochter Renate wird 1926 geboren. Die Familien Stern und Strauß betreiben im Haus ein Textilgeschäft und einen Laden mit Tabakwaren.

Sie sind sehr geschätzt in Rödelheim. Edith besucht den Evangelischen Kindergarten im Wehrhof und geht dann auf die Radiloschule. Arthur Stern, der im 1. Weltkrieg als Sanitäter für seine Tapferkeit ausgezeichnet wird, engagiert sich als begeisterter Fußballer im 1. Rödelheimer Fußballclub 02 und wird von 1926 bis 1932 dessen Vorsitzender. Elly Stern ist eine sehr emanzipierte Frau. Sie ist ausgebildete Sekretärin, arbeitet in einer Zeitungsredaktion, lernt Englisch und leitet das Textilgeschäft.

Das Leben als Rödelheimerin zerbricht mit den Fensterscheiben
Doch die Verankerung im gesellschaftlichen Leben Rödelheims täuscht über die aufziehenden Wolken des Nationalsozialismus hinweg. In Rödelheim gibt es eine besonders aktive Ortsgruppe der NSDAP. Arthur Stern wird bereits 1932 aus dem Vorstand des 1. Rödelheimer Fußballclubs gedrängt. Das berüchtigte antijüdische Boykottbuch, das bereits im Dezember 1934 in Frankfurt erscheint, wird vom Rödelheimer Otto Fischer herausgegeben.

Für Edith Stern und ihre Familie zerbricht das Leben als Rödelheimerin mit den Schaufensterscheiben des elterlichen Geschäfts im November 1938 in der Reichspogromnacht, in der auch in Rödelheim der nationalsozialistische Mob ungehemmt wütet. Ihr Vater Arthur wird verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald verbracht. Er kommt erst Wochen später wieder frei. Er wird nie über seine Erlebnisse in Buchenwald erzählen. Aber eins ist nun endgültig klar, die Familie muss sich in Sicherheit bringen, muss Rödelheim und Deutschland verlassen.

Der Antrag zur Ausreise in die USA wird gestellt. Die Schwester von Arthur Stern, Frieda, lebt bereits dort. Auch der Pflegebruder Maurice, der sich nun Henry Weissburst nennt, lebt inzwischen in Kanada. Damit ist eine erste Hürde überwunden, denn um in die USA auszureisen, benötigen die Flüchtlinge die Bürgschaft eines bereits in den USA lebenden Verwandten. Da jedoch die Zahl der Flüchtlinge immer stärker wächst, gibt es lange Wartelisten und Familie Stern steht weit hinten auf der Liste.

Und so entscheiden sich die Eltern, ihre Tochter Edith einem der letzten Kinderhilfstransporte nach Schweden anzuvertrauen, die zur Rettung jüdischer Kinder von der Kindergärtnerin Eva Warburg organisiert werden. Die 16-jährige Edith Stern besteigt im Juni 1939 ohne ihre Eltern den Zug nach Fallun in Schweden. Dort lebt sie mit vielen jüdischen Kindern aus Deutschland und Österreich in einem Lager. Da Schweden ein neutrales Land ist, kann sie auch nach Ausbruch des Krieges den Briefkontakt zu ihren Eltern aufrechterhalten und weiß, dass ihren Eltern, gemeinsam mit der Schwiegermutter von Arthur Stern, Sophie Capell, unter großen Schwierigkeiten im Frühjahr 1940 die Ausreise in die USA gelingt. In Schweden werden die jüdischen Kinder und Jugendlichen auf die Ausreise nach Palästina vorbereitet. Da Edith Stern erfährt, dass ihre Eltern inzwischen in die USA gelangt sind, entscheidet sie sich, auch in die USA weiter zu fliehen. Im November 1940 wird sie von Frau Warburg auf dem Stockholmer Flugplatz in ein Flugzeug nach Moskau gesetzt. Bevor sie das Flugzeug besteigt, werden ihr noch zwei Kinder (ein Geschwisterpaar aus Österreich) in die Hand gedrückt mit dem Auftrag, diese sicher in die USA zu begleiten. Nun beginnt für die inzwischen 17-Jährige eine aufregende Reise mit dem Flugzeug nach Moskau, mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Wladiwostok, dann mit dem Schiff nach Japan und schließlich weiter mit dem Schiff über Kanada nach Seattle, von dort mit dem Zug über Chicago nach Buffalo, wo sie im Januar 1941 endlich ihre Eltern wieder trifft. Die beiden ihr anvertrauten Kinder bringt sie wohlbehalten zu deren Eltern.

Das neue Leben im Exil
In Buffalo beginnt das Leben der Familie Stern ganz von vorn. Ihren Besitz mussten sie in Deutschland zurücklassen. Die Mutter verdient das Geld u.a. durch Putzarbeiten, der Vater arbeitet körperlich schwer u.a. in einem Industriebetrieb, der Kräne herstellt.

Im Jahr 1941 erhält die Familie Stern in Buffalo eine letzte Nachricht von ihren Verwandten Selma, Isidor und Renate Strauß. In dem Brief schildert Renate die schrecklichen Bedingungen, denen sie ausgesetzt sind. Dem Brief ist ein Foto von Renate beigelegt. Auf der Rückseite des Fotos steht: „Vergesst eure Renate nicht.“ Nach dem Krieg erfahren sie vom furchtbaren Schicksal ihrer Verwandten Selma, Isidor und Renate Strauß, denen es nicht mehr gelang, aus Deutschland zu entkommen und die 1942 ermordet wurden. An sie erinnern heute drei Stolpersteine vor dem Haus in der Assenheimer Straße 1.

1959 stirbt Sophie Capell im Alter von 89 Jahren in Buffalo, wo sie sich nie richtig heimisch gefühlt hat. Im gleichen Jahr stirbt ebenfalls in Buffalo Frieda Civin, geb. Stern, die Schwester von Arthur Stern. Auch Arthur und seine Frau Elly werden nie richtig heimisch in Buffalo. Zuhause in der Familie wird deutsch gesprochen, Arthur Stern lebt sehr in seinen Erinnerungen an Rödelheim. Vor allem der Fußballclub liegt ihm weiterhin am Herzen. Er stirbt im Jahr 1963. Elly Stern verstirbt im Jahr 1979.

Für Edith Stern wird Buffalo zur neuen Heimat. Sie heiratet nach dem Krieg Walter Froehlich. Gemeinsam ziehen sie 3 Kinder groß (Bill, Carol und John). Edith Froehlich hat 5 Enkelkinder.

John, Carol und Bill, die Enkel von Elly und Arthur Stern. Foto: Familie Froehlich

Bei ihrem ersten Besuch nach der Nazizeit in Rödelheim im Sommer 1979 fühlt sie sich unwillkommen. In Rödelheim erinnert nichts an die Verfolgung und Zerstörung der Jüdische Gemeinde. Edith Froehlich empfindet die Atmosphäre als kalt und feindselig. In ihr steigen die Bilder und Erfahrungen der Verfolgung wieder auf. Und sie kann mit niemandem darüber sprechen. Es gibt bei diesem Besuch keinen Kontakt zu Rödelheimern.

Dieses Gefühl veränderte sich erst, als sie vom Mahnmal für die Synagoge erfährt und in Briefkontakt mit den Mitgliedern der Gruppe Stadtteilerkundung tritt, die sich für die Geschichte ihrer Familie interessieren. Ab 1991 besucht sie noch drei Mal ihren Geburtsort Rödelheim und begegnet dabei den Menschen mit großer Wärme und Offenheit. Sie ist interessiert und freut sich bei ihrem letzten Besuch in Rödelheim 2010 darüber, dass mit dem Verein Zusammen e.V. ein lebendiger und hoffnungsfroher Ort in ihr Elternhaus eingezogen ist, in dem sich Menschen treffen, die sich dafür einsetzen, dass sich Antisemitismus, Rassismus, Verfolgung und Vertreibung von Menschen aus Deutschland heute und in Zukunft nicht mehr wiederholen dürfen. Edith Froehlich stirbt am 19. November 2014 in Buffalo.

Bill und Carol Froehlich übergeben das Gebetbuch an den damaligen Rödelheimer Pfarrer. Foto: Familie Froehlich

Der Wert eines Buches
Auch ihre Kinder besuchen Rödelheim. 120 Jahre später, nachdem das Gebetbuch in den Besitz der Familie Capell gelangte, kommen Carol und Bill Froehlich gemeinsam zur Einweihung des Arthur-Stern-Platzes im Februar 2018 nach Rödelheim. Und sie haben eine Bitte: Sie wünschen sich, dass das kleine rote Gebetbuch ihrer Großmutter Sybilla (Elly) Capell, das die Familien Capell, Stern und Froehlich in Rödelheim und in Buffalo begleitet hat, wieder zurückkehrt an den Ort der Herkunft, der Heimat, nach Rödelheim in die Nähe des Ortes, an der die jüdische Synagoge stand. Und so haben sie dieses Buch in die Obhut der Evangelischen Cyriakusgemeinde gegeben, damit es an die Familiengeschichte der Familien Capell, Strauß, Stern und Froehlich erinnert und an die lange Geschichte der jüdischen Gemeinde Rödelheims, an Wolf Heidenheim, an das gegenseitig befruchtende Zusammenleben, aber auch mahnend an die Schrecken der nationalsozialistischen Verfolgung verbunden mit der Mahnung und der Hoffnung, dass sich ein solches Verbrechen nie wieder wiederholen darf und wird.

Hierin liegt der Wert dieses Buches. Und so konnte ich mich auf dem Hauptzollamt auch auf eine symbolische Zollgebühr einigen für ein Geschenk, das unbezahlbar ist.

Quellen

  • Archiv der Gruppe Stadtteilerkundung in der Evangelischen Cyriakusgemeinde
  • Archiv des 1. Rödelheimer Fußballclub 02
  • Die vergessenen Nachbarn – Juden in Rödelheim, Hrsg. Jüdisches Museum der Stadt Frankfurt, 1990 Frankfurt
  • Froehlich, Edith, Video-Interview, US Holocaust Memorial Museum, Research Centre Buffalo, 1987
  • Rettet wenigstens die Kinder, Hrsg. Angelika Rieber, Till Liebherz-Groß, Fachhochschulverlag, 1918 Frankfurt
  • 12 Jahre Rödelheim 1933-1945, Hrsg. Gruppe Stadtteilerkundung Rödelheim, 1988 Frankfurt