Rödelheim und das Frankfurter Boykottbuch
Bereits am 29. April 1933 erlässt die Gauleitung der NSDAP Anweisungen zum Boykott gegen Juden in Frankfurt. Darin heißt es u.a. zu den „Pflichten der Komitees zum Boykott gegen die Juden“: „Propaganda des wirtschaftlichen Boykotts; … Grundsatz: Kein Deutscher kauft bei einem Juden oder bei einem jüdischen Mittelsmann. … Zusammenstellung von Listen jüdischer Geschäfte, die direkt an das Gau-Presseamt, Elbestraße 61, zur Veröffentlichung zu senden sind.“
Am 1. April 1933 findet der erste zentrale Boykott jüdischer Geschäfte im Dritten Reich statt. Es ist zu vermuten, dass wie in der Frankfurter Innenstadt auch durch Rödelheim SA- und SS-Leute ziehen und sich vor jüdischen Geschäften postieren. Überlebende Angehörige des Metzgers Sally Fleisch in der Reichsburgstraße 2 haben berichtet, dass der Vater selbst das Geschäft verbarrikadiert hatte, damit ihm die Scheiben nicht eingeworfen wurden.
Die Rödelheimer Ortsgruppe der NSDAP spielt bei dem Boykott der jüdischen Geschäfte eine besonders radikale Rolle. Im September 1934 wendet sie sich mit einem Flugblatt „An alle Parteigenossen!“ Darin kritisiert sie, dass ihnen zugetragen wurde, „…das(s) Parteigenossen die dem Judentum gegenüber gebotene Zurückhaltung vermissen lassen.“ Der Ortsgruppenleiter August Müller und der Geschäftsführer Kalli Berger verbieten im Weiteren allen Parteigenossen u.a.: „… Fürsprache für Juden bei staatlichen und anderen Stellen; … das Ausstellen von Bescheinigungen aller Art für Juden; … Verkehr mit Juden in der Öffentlichkeit und in Lokalen…“




Im Dezember 1934 erscheint schließlich unter dem Titel: „Eine Antwort auf die Greuel- und Boykotthetze der Juden im Ausland“ ein Adressbuch jüdischer Geschäfte, Firmen, Rechtsanwälte, Ärzte und Privatpersonen für ganz Frankfurt mit dem Aufruf an die Bevölkerung, diese zu boykottieren. Im aus allen Ortsgruppen zusammengetragenen Adressenteil finden sich auch 31 Adressen Rödelheimer Juden. Als verantwortlicher Herausgeber des Buches ist der Rödelheimer Otto Fischer aus der Dreispitzstraße 6 angegeben.
Der Boykott der Geschäfte trifft die Rödelheimer Juden massiv und führt dazu, dass sie wirtschaftlich schnell ruiniert sind und dann gezwungen werden, ihre Häuser zu verkaufen. So ergeht es auch der Familie Wallerstein, deren Haus in der Radilostraße 8 bereits 1937 zwangsversteigert wird. Ab 1938 wird das Haus Sitz der NSDAP-Ortsgruppe Rödelheim. Nachdem der bisherige Ortsgruppenleiter wegen Unterschlagung von Geldern verhaftet und verurteilt wurde, übernimmt Kalli Berger die Ortsgruppenleitung. Unter ihm wird die NSDAP-Ortsgruppe noch radikaler.
Die wenigen jüdischen Familien, die sich noch halten können, müssen spätestens nach der Pogromnacht im November 1938 ihren Besitz aufgeben.
Otto Fischer ist zum Zeitpunkt der Herausgabe des Boykottbuches bereits seit 1930 wegen einer Erkrankung frühpensioniert. Bis dahin hatte er als Straßenbahnschaffner der Stadt Frankfurt gearbeitet. Er ist Mitglied der NSDAP.
Im Gerichtsverfahren gegen ihn gab er nach 1945 an, vom Ortsgruppenleiter August Müller gedrängt worden zu sein, als Herausgeber des Boykottbuches zu fungieren. Er selbst habe gar nicht gewusst, was für ein Buch das gewesen sei. Das habe sich erst geändert, als sich einige Geschäftsinhaber bei ihm beschwert hätten, dass sie fälschlicher Weise in das Buch aufgenommen worden wären. Das Gericht akzeptierte diese Aussage und ging dem Zustandekommen des Boykottbuches nicht weiter nach.
Das Verfahren gegen Otto Fischer wurde eingestellt.
Die Evangelische Cyriakusgemeinde, die sich in der Nazizeit zur Bekennenden Kirche zählte, beschäftigte Otto Fischer in der Nachkriegszeit als Küster.
Quellen:
Krohn, Helga / Rauschenberger, Katharina; Juden in Rödelheim. Die vergessenen Nachbarn, Frankfurt 1990
Archiv Gruppe Stadtteilerkundung in der Evangelischen Cyriakusgemeinde
Fotos:
Archiv Gruppe Stadtteilerkundung in der Evangelischen Cyriakusgemeinde