Arthur Stern

Familie Stern

Als Arthur Stern am 29. Juni 1890 in Rödelheim zur Welt kommt, ist die Blütezeit der Jüdischen Gemeinde in Rödelheim bereits vorbei, die seine Großeltern väterlicherseits noch erlebt haben. Louis Stern (1803 – 1894) und Fanny Stern, geb. Fleisch leben zur gleichen Zeit in Rödelheim, in der Wolf Heidenheim und Baruch Baschwitz dort wirken und über die berühmten jüdischen Gebetbücher, die von Wolf Heidenheim erstmals in deutscher Sprache verfasst und kommentiert und in der gemeinsamen Druckerei gedruckt werden, Rödelheim in der gesamten deutschsprachigen jüdischen Welt bekannt machen. In dieser Zeit kommt es in Rödelheim auch zu einer Annäherung von Christen und Juden. Viele Intellektuelle suchen das Gespräch mit dem liberalen Juden Heidenheim. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Rödelheim liegt bei 30%. Die Juden sind nach den Protestanten die zweitgrößte Religionsgruppe in Rödelheim.

jew. von links nach rechts 1. R. Edith Stern, Renate Strauß, Heinz, 2. R. Elly Stern, Selma Strauß, Frieda Stern, hinten Hanna (Mutter von Heinz)
Joseph Stern, der Vater von Arthur

Dies ändert sich bereits zu Lebzeiten seines Vaters Joseph Stern (1846-1917) und seiner Mutter Carolin Stern, geb. Rothschild (1854-1927). In der aufkommenden Zeit der Industrialisierung wächst zum einen die Bevölkerungszahl Rödelheims, während viele jüdische Familien bereits in das nun liberale Frankfurt gezogen sind. Doch die verbliebenen jüdischen Familien haben einen festen Platz im gesellschaftlichen Leben Rödelheims. Josef Stern, der unter den Rödelheimern dafür bekannt ist, dass er in seiner Freizeit auf Familienfesten als Zauberer auftritt, hat das Schneiderhandwerk von seinem Vater Louis übernommen. Die Familie Stern lebt in der Winterstraße 18. Hier wächst Arthur mit seiner Schwester Frieda, die 1896 zur Welt kommt, und seinem Pflegebruder Maurice Weissbürst (später Henry Weissburst) auf. Maurice wird von Familie Stern großgezogen, weil dessen Eltern als Handelsvertreter immer wieder für lange Zeit auf Reisen sind.

Arthur Stern Haus Assenheimer St. 1 / Alt Rödelheim

Arthur Stern setzt die berufliche Tradition der Familie fort. Nun jedoch nicht mehr als Schneider, sondern als Handelsvertreter und Kommissionär für Textilwaren. Bevor er 1921 Mitinhaber des Textilgeschäftes „Preissig und Stern“ in der Alexanderstraße 86, mit einer Filiale im Haus Assenheimerstraße 1/ Alt Rödelheim 12 wird, zieht er wie viele junge Männer dieser Zeit als deutscher Soldat in der Funktion eines Sanitäters in den 1. Weltkrieg. Aus dem Krieg kehrt er mit der Auszeichnung für besondere Tapferkeit nach Rödelheim zurück.

Das Jahr 1921 wird zu einem Jahr wichtiger Entscheidungen in seinem Leben. Der neue Mitinhaber des Textilgeschäftes „Preissig und Stern“ heiratet am 09. November die älteste Tochter der alteingesessenen Rödelheimer Familie Capell, Sybilla, genannt Elly. Die Hochzeit wird mit dem Kantor der Jüdischen Gemeinde, Julius Zinkes, in der Winterstraße 18 gefeiert.

Elly Stern übernimmt nach der Hochzeit die Leitung der Filiale des Textilgeschäftes, während Arthur als Provisionsvertreter für verschiedene Textilfirmen sehr erfolgreich tätig wird.

Das junge Paar zieht in das Haus der Familie Capell in der Assenheimerstraße 1 / Alt Rödelheim 12. Dort leben sie gemeinsam mit der Familie der Schwester von Elly, Selma, die den Handelsvertreter Isidor Strauß geheiratet hat und der Mutter Sophie Capell, geb. Hammel, die seit 1920 Witwe ist.

Am 13. März 1923 wird die Tochter Edith Stern geboren. 3 Jahre später ihre Cousine Renate Strauß.

Die Familien Stern und Strauß leben völlig unbefangen in Rödelheim und sind in das gesellschaftliche Leben integriert. Nicht nur das Textilgeschäft, das die Sterns 1927 nach der Trennung der Geschäftspartner Preissig und Stern in Eigenregie übernehmen und das Zigarrengeschäft, das Arthur und sein Schwager Isidor Strauß im gleichen Haus ab Oktober 1926 gemeinsam betreiben, sind in Rödelheim geschätzt. Auch das gesellschaftliche Engagement von Arthur in Rödelheim ist hoch angesehen. Als sportbegeisterter junger Mann engagiert sich Arthur Stern frühzeitig ehrenamtlich. So gehört er zu den Mitbegründern der Rödelheimer Turn- und Sportvereinigung und ist Fußballspieler, Schiedsrichter und Vorstandsmitglied im 1. Rödelheimer Fußballclub 02. Von 1926 bis 1931 wirkt er dort als 1. Vorsitzender und organisiert federführend die Feierlichkeiten zum 25jährigen Bestehen des Vereins im Jahr 1927.

Die Tochter Edith geht in den Kindergarten der Evangelischen Cyriakusgemeinde, besucht dann die Radiloschule und wechselt schließlich auf das Philantropin. Sie wächst in einem behüteten Elternhaus auf. Ihre Mutter ist sehr emanzipiert, eine ausgebildete Sekretärin, die u.a. in einer Zeitungsredaktion arbeitet und deshalb auch Englisch gelernt hat.

Rödelheimer Fußballclub 02 1931, Arthur Stern 1.R-5.von li.,kniet.

Doch die Verankerung im gesellschaftlichen Leben täuscht über die aufziehenden Wolken des Nationalsozialismus hinweg. In Rödelheim gibt es eine besonders aktive Ortsgruppe der NSDAP. Arthur Stern wird bereits 1932 aus dem Vorstand des 1. Rödelheimer Fußballclubs 02 gedrängt.

Die Rödelheimer Ortsgruppe der NSDAP, die später ihren Sitz im arisierten Haus der Familie Wallerstein in der Radilostraße haben wird, gilt als eine der treibenden Kräfte bei der Herausgabe des Boykottbuchs, das im Dezember 1934 in Frankfurt erscheint. In dem Adressbuch sind die jüdischen Geschäfte und Adressen jüdischer Geschäftsleute in Frankfurt aufgeführt. Darunter finden sich auch 31 Adressen von Rödelheimer Geschäftsleuten, auch die von Arthur Stern. Ein perfides hetzerisches Buch, in dem zum Boykott der jüdischen Geschäfte aufgerufen wird. Als Herausgeber dieses Buches fungiert der Rödelheimer Otto Fischer.

Bereits 1933 muss Arthur Stern seine langjährige Tätigkeit als Handelsreisender bei der Firma Paul Landrock beenden. 1959 wird die Firma ihm bestätigen:

Leider konnte Herr Stern nicht mehr für uns reisen, da er Jude war. …Ich betone jedoch ausdrücklich, dass Herr Stern zu unseren besten Verkäufern gehört hat.

Zitat aus: Liebherz-Groß, Till „Die abenteuerliche Reise eines Rödelheimer Mädchens über Schweden in die USA“, in „Rettet wenigstens die Kinder“ Hrsg. Angelika Rieber und Till Liebherz-Groß, Frankfurt 2018, S. 204

1937 entscheidet sich die Familie, Edith auf die einjährige „Jüdische Haushaltsschule e.V.“ zu schicken, um sie auf die Emigration vorzubereiten, da sie in Deutschland keine Perspektive mehr für sie sehen.

Boykottbuch Arthur Stern

Für Familie Stern zerbricht das Leben als Rödelheimer mit den Schaufensterscheiben des elterlichen Geschäfts im November 1938 in der Reichspogromnacht, in der auch in Rödelheim der nationalsozialistische Mob ungehemmt wütet. Das Geschäft wird geplündert, Arthur Stern verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald verbracht. Er kommt erst Wochen später wieder frei. Über die Geschehnisse in Buchenwald wird er nie erzählen. Aber eins ist nun endgültig klar, die Familie muss sich in Sicherheit bringen, muss Rödelheim und Deutschland verlassen. Ihnen ist inzwischen auch die Existenzgrundlage genommen, das Geschäft wird am 30.12.1938 endgültig als Gewerbe abgemeldet.

Und so entscheiden sich die Eltern, ihre Tochter Edith einem der letzten Kinderhilfstransporte nach Schweden anzuvertrauen, die zur Rettung jüdischer Kinder von der Kindergärtnerin Eva Warburg organisiert werden. Die 16jährige Edith Stern besteigt im Juni 1939 ohne ihre Eltern den Zug nach Fallun in Schweden. Dort lebt sie mit vielen jüdischen Kindern aus Deutschland und Österreich in einem Lager. Am 25. November 1940 beginnt für sie eine lange abenteuerliche Reise über die Sowjetunion, Japan und Kanada, die erst Anfang 1941 in Buffalo endet.

Dort trifft sie endlich wieder auf ihre Eltern und ihre Großmutter Sophie Capell, denen im März 1940 die Ausreise in die USA über Genua gelungen ist. Bis dahin hat Arthur Stern für die „Jüdische Wohlfahrtspflege der Jüdischen Gemeinde Frankfurt“ als Leiter der Abteilung Wohnungszuzug beim Städtischen Fürsorgeamt gearbeitet.

In Buffalo beginnt das Leben der Familie Stern ganz von vorn. Ihren Besitz haben sie in Deutschland zurücklassen müssen. Die Mutter verdient das Geld u.a. durch Putzarbeiten, Arthur Stern muss die Familie zunächst durch teilweise körperlich schwere Hilfsarbeiten ernähren.

Familie Stern USA

Der Antrag zur Ausreise in die USA wird gestellt. Die Schwester von Arthur Stern, Frieda, lebt bereits dort. Sie ist inzwischen mit Harry Civin in Buffalo verheiratet. Auch der Pflegebruder Maurice Weissbürst lebt inzwischen als Henry Weissburst in Kanada. Er ist bereits 1926 ausgewandert. Damit ist eine erste Hürde überwunden, denn um in die USA auszureisen, benötigen die Flüchtlinge die Bürgschaft eines bereits in den USA lebenden Verwandten. Da jedoch die Zahl der Flüchtlinge immer stärker wächst, stehen sie auf der Warteliste zur Ausreise sehr weit hinten.

Im Jahr 1941 erhält die Familie in Buffalo eine letzte Nachricht von ihren Verwandten Selma, Isidor und Renate Strauß. In dem Brief schildert Renate die schrecklichen Bedingungen, denen sie ausgesetzt sind. Dem Brief ist ein Foto von Renate beigelegt. Auf der Rückseite des Fotos steht: „Vergesst eure Renate nicht.“ Erst nach dem Krieg erfahren sie vom furchtbaren Schicksal ihrer Verwandten. Selma, Isidor und Renate Strauß ist es nicht gelungen, aus Deutschland zu entkommen. Sie werden 1942 ermordet. An sie erinnern heute drei Stolpersteine vor dem Haus in der Assenheimerstraße 1.

Entlastungsschreiben für Rudolf Köhler von Arthur Stern 1947

Arthur Stern und seine Frau Elly werden nie richtig heimisch in Buffalo. Zuhause in der Familie wird deutsch gesprochen, deutsch gekocht, Skat gespielt. Man trifft sich in der Regel im Kreis deutscher jüdischer Migranten, die ein ähnliches Schicksal erlitten haben. Aber Arthur und Elly Stern tuen alles dafür, dass sich ihre Tochter Edith eine berufliche Zukunft in den USA aufbauen kann. Edith heiratet 1946 Walter Froehlich, zu dem sie bereits während des Krieges einen regen Briefkontakt aufgebaut hat. Auch Walter Froehlich ist ein deutschstämmiger jüdischer Emigrant, der als US-Soldat zunächst in Frankreich und dann in Deutschland eingesetzt ist. Sie werden Eltern von drei Kindern: William (Bill) geboren 1950, Carol geboren 1952 und John geboren 1957. Die Enkel von Arthur und Elly Stern erlernen ihre ersten Deutschkenntnisse bei ihren Großeltern, die ausschließlich deutsch mit ihnen reden. Arthur Stern lebt sehr in seinen Erinnerungen an Rödelheim. Nach dem Krieg erinnert sich Familie Stern an den Jungen Heinz und dessen Mutter, um die sich die Familie Stern viel gekümmert hat. Heinz ist der 1923 geboren Sohn von Maurice Weissbürst. Da die Mutter von Heinz nicht, wie zunächst geplant, Maurice nach Amerika gefolgt ist, zieht sie ihren Sohn alleine auf und wird dabei von Arthur Stern und seiner Familie unterstützt. Nun schicken sie Carepakete an die Familie nach Frankfurt. Heinz liest aus den beiliegenden Briefen das große Interesse von Arthur Stern am Fortbestehen des 1. Rödelheimer Fußballclub 02 und versorgt ihn in der Folge mit den neusten Sportnachrichten aus Rödelheim und als mit dem Kicker eine Sportzeitschrift erscheint, die auch über die Fußballergebnisse des Rödelheimer Fußballclubs berichtet, da abonniert er diesen für Arthur Stern in Buffalo. So entwickeln sich wieder erste Kontakte zu ehemaligen Freunden in Rödelheim und Arthur Stern ist auch hilfreich mit einer Bescheinigung im Rahmen der Entnazifizierung für einen Rödelheimer, dem er bestätigt, sich in der Zeit bis 1940 immer korrekt und nie feindlich gegenüber der Familie Stern verhalten zu haben.

Arthur Stern stirbt im Jahr 1963. Seine Frau Elly verstirbt im Jahr 1979 ebenfalls in Buffalo.

Zum Tod von Arthur Stern im Dezember 1963 erscheint auch in Rödelheim ein Nachruf auf ihn. Gedacht wird dem langjährigen Vorsitzenden und Ehrenmitglied Arthur Stern. „Im nahezu vollendeten 74. Lebensjahr ging einer unserer Treuesten in unseren Reihen aus dieser Welt.“ heißt es im Nachruf. Wie schwierig es 1963 noch ist, die richtigen Worte zu den unfassbaren Naziverbrechen zu finden wird in der Formulierung: „Ein ungünstiges Zeitgeschehen führte ihn in den Endjahren seines Hierseins zur Emigration.“ deutlich. Und doch ist dieser Nachruf auch ein klares und deutliches Bekenntnis zu Arthur Stern und seinem Wirken in Rödelheim:

War sein damaliges Scheiden für uns schon schmerzlich, so trifft uns um vieles mehr sein nunmehriger Heimgang. Neben den schon von uns gegangenen Freunden bleibt sein Wirken in unseren Reihen unvergesslich.

Anzeige im Main-Nidda-Boten vom Dezember 1963, Archiv Gruppe Stadtteilerkundung in der Evangelischen Cyriakusgemeinde

Unterschrieben ist der Aufruf vom Mitglied des Ältestenrates Opper und vom Mitglied des Vorstandes Baer.

Einweihung des Arthur Stern Platzes 2018

Am 14.02.2018 wird das Wirken von Arthur Stern in Rödelheim nachträglich mit der Einweihung des Arthur-Stern-Platzes gewürdigt. Oberbürgermeister Feldmann überreicht den nach Frankfurt angereisten Enkel*innen William und Carol Froehlich dabei ein entsprechendes Straßenschild. Arthur Stern ist nun auch symbolisch wieder nach Rödelheim heimgekehrt.


Autor: Heiko Lüßmann

Quellen:

  • Archiv Gruppe Stadtteilerkundung in der Evangelischen Cyriakusgemeinde
  • Eberhard, Heinz, Gespräche mit Heiko Lüßmann 2010
  • Froehlich, Edith, Video-Interview, US Holocaust Memorial Museum, Research Centre Buffalo, 1987
  • Froehlich, Edith, Gespräche mit Heiko Lüßmann 1991, 2001 und 2010
  • Gruppe Stadtteilerkundung Hrsg., „12 Jahre Rödelheim 1933-1945“, Frankfurt 1988
  • Krohn, Helga, Rauschenberger, Katharina, „Die vergessenen Nachbarn – Juden in Rödelheim“, Hrsg. Jüdisches Museum Frankfurt, Frankfurt 1990
  • Liebherz-Groß, Till, Rieber, Angelika Hrsg., „Rettet wenigsten die Kinder – Kindertransporte aus Frankfurt am Main – Lebenswege von geretteten Kindern, Frankfurt 2018

Fotos:

  • Familie Froehlich
  • Heiko Lüßmann